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Donnerstag,
der 1. Februar 1990

Eine der wichtigsten Errungenschaften der Wende, das "Gesetz über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik in das Ausland" tritt offiziell in Kraft. Jeder Bürger kann nunmehr mit einem Reisepaß jederzeit das Land verlassen.

Ministerpräsident Hans Modrow präsentiert nach seiner Rückkehr aus Moskau der überraschten Öffentlichkeit seine eigene Konzeption für den Weg zur deutschen Einheit. "Deutschland soll wieder einig Vaterland aller Bürger deutscher Nation werden. Damit von ihm nie mehr Gefahr für Leben und Gut seiner Nachbarn ausgeht, sind Verantwortungsbewußtsein, Behutsamkeit und Verständnis für das Machbare und für Europa Ertragbare erforderlich", erklärt er vor der Presse in Ostberlin. Als denkbare Schritte nennt Modrow eine Vertragsgemeinschaft mit konföderativen Elementen, die Bildung einer Konföderation von DDR und Bundesrepublik mit gemeinsamen Organen, die Übertragung von Souveränitätsrechten beider Staaten an Machtorgane der Konföderation und schließlich die Bildung eines einheitlichen deutschen Staates in Form einer Deutschen Föderation oder eines Deutschen Bundes durch Wahlen.

Die Bundesregierung will über Einzelheiten des Weges zur deutschen Einheit erst nach dem 18. März mit einer frei gewählten Regierung verhandeln. Es sei selbstverständlich, daß der Weg zur Einheit eingebettet bleiben müsse in den gesamteuropäischen Prozeß, sagt Kanzleramtsminister Bohl in Westberlin zur jüngsten Erklärung von Modrow. Es sei allerdings klar, daß der Weg zur deutschen Einheit nicht über ein Konzept der Neutralität gegangen werden könne, weil dies der Logik des gesamteuropäischen Einigungsprozesses widerspreche.

Bundeskanzler Helmut Kohl trifft in Westberlin mit dem Vorsitzenden der CDU, Lothar de Maizière, zusammen, um mit ihm die Bildung eines Wahlbündnisses mehrerer konservativer Parteien zu beraten. Der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruch, Wolfgang Schnur, sieht bereits "eine klare Mehrheit", die sich christlichen, liberalen, sozialen und konservativen Werten verbunden fühle.
Die Regierung beschließt als Sofortmaßnahme die Erhöhung von Löhnen und Gehältern für 2,3 Millionen Arbeiter und Angestellte. Die Erhöhungen, für die rund 3,6 Milliarden Mark erforderlich sind, sollen vom 1. März bis 1. Juli in Kraft treten. Der Ministerrat verabschiedet weiter eine Vorruhestandsregelung für ältere Beschäftigte, die ihren Arbeitsplatz verloren haben sowie eine Verordnung über Ausgleichszahlungen während der Arbeitsvermittlung. Beides wird dem Runden Tisch zugeleitet.
Der Vizepräsident der ostdeutschen Bauakademie, Professor Werner Teuber, zeichnet ein schonungsloses Bild der katastrophalen Situation der Bauten in der DDR. So hätten von den insgesamt 7,1 Millionen Wohnungen eineinhalb Millionen weder Bad noch Dusche, fast eine Million keine Toilette in der Wohnung. Rund die Hälfte aller Wohnungen werde noch mit Einzelöfen beheizt. Die Häuser seien im Durchschnitt 58 Jahre alt. Von den nach dem Zweiten Weltkrieg gebauten Wohnhäusern seien elf Prozent bereits so verfallen, daß sie nicht mehr zu erhalten seien.

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