Die DDR wird an diesem Tag 40 Jahre alt. Der Morgen beginnt in Ostberlin mit Aufräumarbeiten. Straßenkehrmaschinen beseitigen die Überreste des propagandistischen Fackelzuges der Freien Deutschen Jugend. 100.000 Jugendliche waren am Vorabend an Staats- und Parteichef Erich Honecker vorbeigezogen. Um 10:00 Uhr beginnt auf der Karl-Marx-Allee eine große Militärparade, gegen die die westlichen Allierten protestieren. Am Nachmittag gibt es Volksfeste in allen Stadtbezirken.
Doch Begeisterung will nicht recht aufkommen. Auf dem Land lastet ein bisher nichtgekannter Druck. Seit dem 10. September verlassen täglich Tausende vor allem junger Menschen die DDR in Richtung Westen. Sie fliehen über Ungarn oder suchen Zuflucht in den diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik in Prag und Warschau. Die Gründe sind vielfältig: Unzufriedenheit über mangelnde Reisemöglichkeiten, eingeschränkte Rechte bei der Meinungsäußerung, Mangel an politischer Freiheit, die Verlogenheit der Medien, die im Vergleich zu Westdeutschland schlechtere Versorgungslage, der Verfall zahlreicher Städte und Betriebe. Dies alles hat Verdruß erzeugt und Entschlossenheit.
Gegen 17:00 Uhr finden sich einige hundert Jugendliche auf dem Ostberliner Alexanderplatz zusammen, um "auf die Wahlen zu pfeifen". Mit einem Konzert aus Trillerpfeifen protestieren sie gegen die Manipulation der jüngsten Kommunalwahlen. Mit den Umstehenden wird diskutiert, dann werden die ersten Sprechchöre laut. Im Gegensatz zu früheren Kundgebungen, bei denen zu hören war "Wir wollen raus!", heißt es diesmal trotzig "Wir bleiben hier!". Damit soll signalisiert werden, daß sich die angestauten Probleme nicht einfach abschieben lassen, sondern im Lande selbst geklärt werden müssen.
Die Gruppe macht sich auf den Weg in Richtung Palast der Republik, wo zu dieser Zeit die Partei- und Staatsführung mit ihren Gästen, darunter auch der sowjetische Reformpolitiker Michail Gorbatschow, offiziell Geburtstag feiert. Die inzwischen auf 2000 - 3000 Personen angewachsene Menge skandiert immer wieder "Gorbi, hilf uns" und "Wir sind das Volk". Doch der Demonstrationszug wird von der Polizei abgedrängt und zieht daraufhin in Richtung des nördlichen Stadtbezirks Prenzlauer Berg. Hier findet seit einer Woche in der Gethsemanekirche eine Mahnwache für politische Gefangene statt. Als die Demonstranten an der staatlichen Nachrichtenagentur ADN vorbeikommen, rufen sie "Lügner, Lügner" und "Pressefreiheit Meinungsfreiheit". Die ersten Mannschaftswagen fahren heran. Polizisten sperren die Seitenstraßen ab. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, zu Verhaftungen und zum Einsatz von Gummiknüppeln. "Keine Gewalt!" ruft die Menge und strebt weiter vorwärts. Anderthalbtausend Menschen erreichen schließlich die Gethsemanekirche an der Schönhauser Allee. Spezialeinheiten der Polizei und der Staatssicherheit riegeln das Gebiet hermetisch ab. Gegen Mitternacht kommt der Befehl zum Losschlagen, genau wie in Leipzig, Dresden, Plauen, Jena, Magdeburg, Ilmenau, Arnstadt, Karl-Marx-Stadt und Potsdam, wo an diesem Feiertag politische Demonstrationen ebenfalls gewaltsam aufgelöst werden.
Am gleichen Abend findet in dem kleinen Ort Schwante nördlich von Berlin die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei (SDP) für die DDR statt. Sie fordert eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft mit demokratischer Kontrolle ökonomischer Macht, freie Gewerkschaften nebst Streikrecht, Reisefreiheit und Auswanderungsrecht sowie Anerkennung der Zweistaatlichkeit Deutschlands.
© 1999, Christoph Links Verlag, Berlin