In Leipzig spitzt sich die Lage vor der allwöchentlichen Montagsdemonstration oppositioneller Kräfte gefährlich zu. Es wird bekannt, daß medizinisches Personal für die Spät- und Nachtschicht zwangsverpflichtet wurde, ganze Krankenhausstationen geräumt sind und zusätzliche Blutkonserven bereitstehen. Für den Abend wird Schlimmstes befürchtet. Das Syndrom des "himmlischen Friedens" geht um, gewaltsame Lösungen wie in China, mit vielen Verletzten und womöglich auch Toten, werden nicht mehr ausgeschlossen.
In dieser Situation finden sich prominente Künstler, darunter der Chefdirigent des Gewandhauses Kurt Masur, ein Pfarrer und drei Sekretäre der Bezirksleitung der SED zusammen, um eine Initiative zur Deeskalation zu starten. Über den Stadtfunk wird am Nachmittag ihre gemeinsame Erklärung verbreitet: "Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. (...) Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird."
Am Abend erlebt Leipzig die größte Protestdemonstration der DDR seit dem 17.Juni 1953. 70.000 Menschen ziehen durch die Innenstadt. Die Polizei zieht sich angesichts dieser überwältigenden Massen zurück. Sie hat keine Chance mehr. Immer wieder erschallt der alles bestimmende Ruf: "Wir sind das Volk". Mit ihm wird den Herrschenden das Recht abgesprochen, weiter im Namen des Volkes zu agieren.
© 1999, Christoph Links Verlag, Berlin