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Samstag,
der 4. November 1989

Schon seit dem frühen Morgen ist die gesamte Ostberliner Innenstadt mit Demonstranten gefüllt. Der Verkehr ruht vollständig. Schauspieler mit grün-gelben Schärpen und der Aufschrift "Keine Gewalt" wirken als Ordner und werden von allen wohlwollend akzeptiert. Mit der Volkspolizei ist eine Sicherheitspartnerschaft verabredet. Uniformierte sind fast nirgends zu sehen, nicht einmal vor der Volkskammer und dem Staatsratsgebäude, wo fünf Stunden lang Hunderttausende vorbeiziehen, um Presse- und Versammlungsfreiheit zu fordern, radikale Reformen einzuklagen. Nach offiziellen Schätzungen sind mehr als eine halbe Million Menschen beteiligt.

Es ist die größte Protestdemonstration in der Geschichte der DDR. Zum Abschluß findet auf dem Alexanderplatz eine Kundgebung statt, zu deren Eröffnung der Schauspieler Ulrich Mühe ausspricht, was alle fühlen: "Es war einfach wunderbar". Noch nie hat Ostberlin soviel gemeinschaftliche Entschlossenheit, spontanen Einfallsreichtum und bei aller Radikalität auch Besonnenheit erlebt.

Die Schriftstellerin Christa Wolf verweist darauf, daß die revolutionäre Bewegung auch die Sprache befreit habe. "Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei von den Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zurufen: 'Demokratie – jetzt oder nie!', und wir meinen Volksherrschaft".

Auch wenn die schwierigste Phase der Umgestaltung noch bevorsteht, sind sich an diesem Tag doch alle darin einig: In den letzten vier Wochen hat sich in der DDR mehr verändert, als in vier Jahrzehnten zuvor. Der 4. November wird zum Markstein. Von nun an kann die SED-Führung an den Forderungen der Massen nicht mehr vorbei, geht es nicht mehr zu alten Herrschaftspraktiken zurück.

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