Es beginnt das große Wochenende der Parteitage, an dem neue wie erneuerte Kräfte Bilanz ziehen und Ausblick wagen. Die erste Phase der revolutionären Umgestaltung scheint abgeschlossen. Alte festgefahrene Verhältnisse sind aufgebrochen, der Boden für grundlegende Veränderungen bereitet. Nun gilt es, Kräfte zu sammeln, überzeugende Programme zu erarbeiten und Mehrheiten zu gewinnen, um bei den bevorstehenden Wahlen strukturelle Wandlungen herbeizuführen, die bis an die Wurzeln der Gesellschaft reichen.
Der neugewählte Generalsekretär der CDU, Martin Kirchner, gibt auf der Abschlußsitzung des Parteitags in Berlin ein öffentliches Schuldbekenntnis seiner Partei ab. Täter und Opfer seien Opfer und Täter zugleich gewesen.
In Leipzig tagt zur gleichen Zeit der Gründungsparteitag des Demokratischen Aufbruch. Der Rostocker Rechtsanwalt Wolfgang Schnur wird zum Vorsitzenden gewählt. Der Erfurter Delegierte Gerald Wittenberg erntet starken Beifall für die Feststellung: "Die Planwirtschaft ist tot, wir wollen diese Leiche nicht wiederbeleben, keine sozialistischen Experimente mehr!"
Die SED beschließt während des zweiten Teils ihres Sonderparteitages in Berlin, sich als "Partei des Demokratischen Sozialismus" neu zu formieren und bis zum nächsten ordentlichen Parteitag unter dem Doppelnamen SED-PDS zu agieren. Zuvor war der Antrag von radikalen Reformern, die SED aufzulösen und eine neue sozialistische Partei zu gründen, abgelehnt worden.
Der Kriminalsoziologe Wolfgang Brück, der die jüngsten Aktivitäten in der rechtsradikalen Szene in der DDR beobachtet, urteilt: "Ich vermute, daß wir recht bald mit einem organisierten Heraustreten einer rechtsextremistischen Organisation aus dem Dunkel zu rechnen haben. Es gibt in der DDR beträchtliche rechtsextreme Stimmungen."
Am Abend wird auf einer Kundgebung in Plauen von etwa 10.000 Menschen abermals eine schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik gefordert.
© 1999, Christoph Links Verlag, Berlin